Militär, Krieg und Gesellschaft in Niedersachsen im 20. Jahrhundert

Militär, Krieg und Gesellschaft in Niedersachsen im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.11.2009 - 21.11.2009
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Von
Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel

Militärgeschichte und allgemeinde Geschichte bewegen sich oftmals nebeneinander her, so dass übergreifende Fragestellungen nicht immer in ausreichendem Maße formuliert werden. Deshalb beschäftigte sich der Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen in zwei Tagungen mit exemplarischen Fallstudien und Spezialuntersuchungen, die dem Verhältnis von Militär, Krieg und Gesellschaft in Niedersachsen gewidmet waren. Bewusst lagen die konzeptionellen Schwerpunkte und methodischen Profile der Vorträge sowohl auf dem Feld der älteren wie der neuen Militärgeschichte als auch in den Bereichen der Sozial-, Kultur- oder Politikgeschichte. Nachdem die Tagung im Herbst 2008 dem 19. und frühen 20. Jahrhundert gewidmet war1, stand in der Fortsetzung im Herbst 2009 das 20. Jahrhundert im Mittelpunkt.

ANDREAS LINHARDT (Braunschweig) berichtete, wie sich die Vorgängerin des heutigen Technischen Hilfswerks (THW), die Technische Nothilfe in Niedersachsen (TN), zwischen 1919-1945 vom „Freikorps der Arbeit“ zur „technischen Hilfspolizei“ entwickelte. Angehörige der Technischen Hochschule Hannover hatten im Juli 1919 eine erste TN-Ortsgruppe außerhalb Berlins gegründet, die als Verstärkung der Technischen Abteilung der Garde-Kavallerie-Schützen-Divison dienen sollte. Diese paramilitärischen Spezialformationen waren dafür geschaffen worden, bei den zahllosen politisch motivierten, oft spontanen „wilden“ Streiks der Revolutionszeit Notstandsarbeiten in als lebenswichtig erachteten Betrieben zu leisten. Da zum einen die Mannschaftsstärke bei vielen gleichzeitig aufflammenden Unruhen in Reich als ungenügend angesehen worden sei, zum anderen die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags einer Aufstockung militärischer Kräfte entgegenstanden, sei die TN ab Herbst 1919 als zivile, dem Reichsinnenministerium zugeordnete Organisation auf das gesamte Reich ausgedehnt worden. Für die überwiegende Mehrheit der organisierten Arbeiterschaft seien die Nothelfer gemeine Streikbrecher gewesen. Vollends ins Zwielicht sei die TN geraten, als sie während des Kapp-Lüttwitz-Putsches Mitte März 1920 die rechtsradikalen Umstürzler unterstützte. Nach dem ersten unruhigen Jahrfünft der Republik sei die Zahl der Einsätze stark zurück gegangen. Die TN habe ihre Aktivitäten nun auf den technischen Katastrophenschutz verlagert. Das Anfang der 1930er-Jahre begonnene Engagement im Gas- und Luftschutz sowie im Freiwilligen Arbeitsdienst habe der Organisation schließlich sogar ein Fortbestehen als „technische Hilfspolizei“ im „Dritten Reich“ ermöglicht. Mit der im Zweiten Weltkrieg erfolgten Aufstellung von TN-Feldkommandos sowie den aus Nothelfern gebildeten Technischen Truppen der Wehrmacht sei die TN in gewisser Weise zu ihren militärischen Wurzeln zurückgekehrt.

KATHARINA HOFFMANN (Oldenburg) ging in ihrem Vortrag über „Faszinationen und Mythen um das U-Boot in der Erinnerungskultur“ darauf ein, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der U-Bootkrieg in der Bundesrepublik zunächst ein Randgruppenthema gewesen sei. Dies habe sich mit Lothar Günther Buchheims Roman „Das Boot“ (1973) und seiner Verfilmung 1981 geändert. Beide Produktionen hätten weltweiten Erfolg gehabt und die Bilder vom Boot-Krieg im Gedächtnis unterschiedlicher Generationen geprägt. Schon zuvor hätte die Memoirenliteratur eine gebrochene Heldenerzählung konstruiert mit dem Tenor, die jungen Helden seien in einem aussichtslosen Kampf von der Führung verheizt worden. Die Präsentation einer Reihe von historischen U-Booten an der deutschen Küste und in Museen werfe die Frage auf, inwieweit diese Musealisierungen in unserer Gesellschaft kursierende Erinnerungsmuster und -bilder wie auch Faszinationen für das Waffensystem im Rahmen ihrer Ausstellungspräsentationen explizit oder implizit berücksichtigten und auf welche Weise versucht werde, kritische Reflexionen anzustoßen.

SEBASTIAN WINTER (Hannover) untersuchte quellenkritisch die von Hanna Fueß, Ende der 1940er-Jahre im Landkreis Celle in den Dörfern gesammelten Berichte der dort Ansässigen über deren Erlebnisse während der Zeit um das Kriegsende herum. Die aus ca. 350 Einzelberichten und weiterem Material aus Dorfchroniken und ähnlichem zusammengestellte vierbändige „Kriegschronik“ sei, obwohl sie bislang von Rainer Schulze nur in Auszügen veröffentlicht vorliege, heutzutage eine der wichtigsten Quellen für die unmittelbare Nachkriegsgeschichte des Landkreises Celle. Eine systematische Untersuchung der Erzählstruktur der „Kriegschronik“-Berichte unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion zur Schaffung einer stringenten und sinnstiftenden Erzählung sowie eine Auseinandersetzung mit der Motivation von Fueß und den Interviewten für dieses Projekt, die ein Licht werfen könnte auf die „Kriegschronik“ als Medium der „Vergangenheitsbewältigung“ von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, fehle jedoch. Es sei kaum beachtet worden, dass Fueß eine überzeugte Anhängerin der Deutschen Christen war und die Gedanken der im Landkreis Celle insbesondere von Hermann Löns geprägten Heimatbewegung mit nationalsozialistischen Ideologemen verbunden habe. Auch ihre Mitgliedschaften in Alfred Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur“ und in der „Nationalsozialistischen Frauenschaft“ sei noch nicht thematisiert worden. Ihre Haltung bei der Zusammenstellung der „Kriegschronik“ sei, wie sich aus ihren Artikeln und privaten Briefen ableiten lasse, geprägt von der Verteidigung der „Ehre der Deutschen und der Heidjer“ (Cellesche Zeitung). Sie habe entlastende Erzählmuster noch verstärkt, indem sie das ihr mündlich Mitgeteilte zumindest stellenweise entsprechend zuspitzte, wie von Winter durch einen Vergleich der „Kriegschronik“ mit ihrer – im Klosterarchiv Wienhausen aufbewahrten – „Kladde“ der Interviewmitschriften gezeigt wurde.

STEPHAN SCHOLZ (Oldenburg) referierte über „Vertriebenendenkmäler in Niedersachsen“. Die Fluchtwelle aus dem Osten und die sich anschließende Zwangsaussiedlung, verbunden mit dem Verlust der ehemaligen Ostgebiete, stellten eine politische, soziale und kulturelle Hypothek des Krieges dar, die gesamtgesellschaftlich zu bewältigen gewesen wäre. Die Formen der bundesdeutschen Erinnerung an Flucht und Vertreibung ließen sich auch an jenen Denkmälern untersuchen, die in großer Zahl zur Erinnerung an die Vertreibung errichtet worden seien. Allein in Niedersachen gibt es über 130 solcher Vertriebenendenkmäler, von denen ein großer Teil in den 1950er-Jahren, ein fast ebenso großer Teil aber in den 1980er-Jahren errichtet wurde. Sie repräsentierten unterschiedliche Formen der Erinnerung. Wie Beispiele aus Oldenburg, Goslar, Göttingen, Osnarbrück, Sarstedt und Wilhelmshaven zeigten, seien vor, während und nach der Errichtung der Denkmäler gesellschaftliche Auseinandersetzungen unter ihren Trägern und Nutzern, ihren Kritikern und Gegnern aufgetreten. Anhand der Analyse von Vertriebenendenkmälern, ihrer Planung und Nutzung und den sie begleitenden gesellschaftlichen Debatten könne also ein Einblick in die Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen in Niedersachsen gegeben werden.

DANIEL J. F. SLEMTIES (Hannover) setzte sich in seinem Vortrag „Auch noch in den 1950er Jahren ein Star – die zweite Geschichte des ‚Sterns von Afrika’“ mit einem Film über den Ritterkreuzträger Hans Joachim Marseille auseinander. Der am 13. August 1957 im Theater am Aegi in Hannover uraufgeführte Film von Herbert Reinecker (Drehbuch) und Alfred Weidemann (Regie) präsentiere dem Publikum einen jungen, draufgängerischen Fliegerhelden, der vom Ausbruch des Krieges überrascht werde und eigentlich nur fliegen wolle. Über den Sinn des Krieges mache er sich keine Gedanken und lasse sich auch nur widerwillig für die nationalsozialistische Propaganda einspannen. Der Erwerb des Ritterkreuzes bei fünfzig Abschüssen und die spätere Verleihung des Eichenlaubes, der Schwerter und der Brillanten für weitere vernichtete feindliche Flugzeuge und Piloten werde allerdings auch von Marseille nicht in Frage gestellt. Die Kulisse des Fliegerfilms bilde eine Wüstenlandschaft mit vereinzelten Palmen, ferner das bei Deutschen in den 1950er-Jahren sehr beliebte Urlaubsgebiet Italien – hier spielte sich auch ein Großteil der Liebesgeschichte des Films ab. Auch wenn das im Film dargestellte Bild des Kriegshelden Marseille die Vermutung nahe lege, es handle sich bei dem Gezeigten um eine Wiedergabe der bevorzugten kollektiven Kriegserinnerung der deutschen Bevölkerung im Jahre 1957, dürfe die Verfügbarkeit eines derartigen Filmes zuerst nur als Angebot an das Publikum und damit auch an das kollektive Gedächtnis, nicht aber als dessen Abbild verstanden werden. Die zeitgenössische Rezeption dieses Films und dieser Premiere in Hannover hingegen lasse Schlüsse auf die öffentliche Wahrnehmung dieser Neuaufführung des Zweiten Weltkrieges in Hannover und Niedersachsen zu.

MARTINA STAATS (Bergen-Belsen) stellte den „Erinnerungsort Bergen-Belsen“ vor: Das Konzentrationslager Bergen-Belsen habe zunächst in der unmittelbaren Nachkriegszeit stellvertretend für die nationalsozialistischen Verbrechen gestanden. Dennoch sei der größte Teil des früheren Lagergeländes von vorhandenen Überresten geräumt und ab Oktober 1945 in einen Friedhof mit Parkcharakter verwandelt worden. Einen Tabubruch der in den frühen 1950er-Jahren vorherrschenden bundesrepublikanischen Erinnerungskultur des Verdrängens und Beschweigens der nationalsozialistischen Vergangenheit habe 1952 Bundespräsident Theodor Heuss mit der Bewertung von Bergen-Belsen als Gedächtnisort zur Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen begangen. Im Verlauf der nächsten Jahre sei der Erinnerungsort Bergen-Belsen jedoch immer stärker in Vergessenheit geraten. In das Bewusstsein der Öffentlichkeit sei Bergen-Belsen erst wieder in den Jahren 1957 bis 1959 durch die als „Pilgerfahrten“ bezeichneten Reisen von mehreren Tausend Jugendlichen zum Grab von Anne Frank gelangt. Nach dem starken Aufflackern der „antisemitischen Schmierwelle“ in den Jahren ab 1958 sollte Bergen-Belsen Anfang der 1960er-Jahre durch den Besuch von Konrad Adenauer zum nationalen und jüdischen Erinnerungsort der NS-Verbrechen werden. Die Realisierung des Umbaus der Gedenkstätte geschah jedoch erst in den Jahren 1960/61 und ein Dokumentationszentrum wurde erst 1966 eingeweiht. Die Erinnerung an das Kriegsgefangenenlager und die Bedeutung für die Erinnerungskulturen in den Zeitschichten könne an der Gestaltung und Umgestaltung des sowjetischen Kriegsgefangenenfriedhofs Bergen-Belsen (Hörsten) verdeutlicht werden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit sei auf Veranlassung der Sowjetischen Militäradministration der Friedhof hergerichtet und mit dem Mahnmal „Die Trauernde“ versehen worden. In den 1960er-Jahren sei eine Umgestaltung auf Veranlassung des Regierungspräsidenten in Lüneburg nach gartenpflegerischen Aspekten mit dem Ziel erfolgt, einen Heidefriedhof zu schaffen.

Die intensive Diskussion der Vorträge zeigte, wie wichtig die Auseinandersetzung mit dem Themenkreis auch für die Landesgeschichte des 20. Jahrhunderts ist. Militär und Krieg wirken in die Gesellschaft hinein und hinterlassen durch die sich wandelnden Formen der Erinnerungskultur tiefe Spuren im öffentlichen Bewusstsein. Mentalitätsgeschichtliche Aspekte spielten dementsprechend bei den Beiträgen der zweiten Tagung eine größere Rolle als noch in jenen der Herbsttagung 2008. Dies regte in der Abschlussdiskussion Überlegungen an, inwiefern sich hierin auch eine allgemeine Tendenz der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft äußert. Die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Militär, Krieg und Gesellschaft wird auch weiterhin auf Facettenreichtum und Methodenvielfalt setzen müssen, um diffizile Prozesse umfassend beschreiben zu können. Dazu haben die beiden Tagungen des Arbeitskreises für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen einen wichtigen Beitrag geleistet.

Konferenzübersicht:

Andreas Linhardt (Braunschweig): Die Technische Nothilfe in Niedersachsen 1919-1945: Vom „Freikorps der Arbeit“ zur „technischen Hilfspolizei“

Katharina Hoffmann (Oldenburg): Faszinationen und Mythen um das U-Boot in der Erinnerungskultur

Sebastian Winter (Hannover): „Hinter diesen schlichten Worten steht ein Heldentum...“ (Hanna Fueß) – Eine Quellenkritik

Stephan Scholz (Oldenburg): Vertriebenendenkmäler in Niedersachsen

Daniel J. F. Slemties (Hannover):Auch noch in den 1950er Jahren ein Star – die zweite Geschichte des „Sterns von Afrika“

Martina Staats (Bergen-Belsen): Der Erinnerungsort Bergen-Belsen

Anmerkung:
1 Tagungsbericht Militär, Krieg und Gesellschaft in Niedersachsen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. 29.11.2008, Hannover, in: H-Soz-u-Kult, 16.03.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2552>.


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